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MZ
Mitteldeutsche Zeitung

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Ausgabe: 28.05.2003    
Denkmalschutz - Ein Charakterdarsteller tritt in Halle ab
Stadtrat entscheidet über Abriss der historischen Landesheilanstalt
VON Günter Kowa, 27.05.03, 16:13h

Einstige Psychiatrische Landesheilanstalt «Königlich-Preußische Provincial-Irrenanstalt Nietleben» in Halle. (Foto: MZ)

Die im 19. Jahrhundert gebaute Landesheilanstalt in Heide-Süd soll Platz machen für einen Forschungsneubau. Ein Abrissantrag der Stadt liegt vor. Er betrifft jedoch nicht die 1864 erbaute Kirche (vorn im Bild). Denkmalpfleger plädieren für den Erhalt aller Bauten. (MZ-Foto: Lutz Winkler)
 
Halle/MZ. Das sprichwörtliche Wunder wird wohl nicht mehr geschehen. Den historischen Bauten der 1844 eröffneten "Königlich-Preußischen Provinzial-Irrenanstalt Nietleben" im heutigen Stadtteil Heide-Süd von Halle droht der Abriss (siehe MZ vom 6. Mai). Dazu will der Stadtrat am Mittwoch voraussichtlich den Antrag beschließen.
Die Anlage steht dem weiteren Ausbau des "Wissenschafts- und Innovationsparks" im Weg. An die Stelle soll der dritte Baukomplex des "Technologie- und Gründerzentrums" (TGZ) treten, der mit einem Reinraum-Labor Forschungsinstitute und Firmen der Nanotechnologie für den Standort gewinnen will.

Der Denkmalschutz steht auf doppelt verlorenem Posten. Zum einen hat die Stadt, die mehrheitlich am TGZ beteiligt ist, am Ausbau des Innovationsparks wirtschaftlich größtes Interesse. Zum anderen stehen die Bauten seit dem Abzug der Sowjetarmee, die sie zuletzt als Kaserne nutzten, leer ohne Aussicht auf neue Interessenten. Der Anblick der verlassenen Häuser in ihrer nüchtern-sachlichen Architektursprache verbreitet Missmut bei den im Umfeld schon vertretenen Technologiefirmen. In den Augen derer, die heute für den Abriss plädieren, gibt es also für Gewissensbisse keinen Anlass.

Der Fall ist aber nicht so leicht abzuhaken. Es geht um kein ganz einfach zu beurteilendes Denkmal. Es besetzt verschiedene Ebenen der Bau-, Geistes- und Kulturgeschichte und erfüllt städtebaulich eine Funktion als Wahrzeichen für den Stadtteil, der gerade jetzt an Profil gewinnen soll. Die politische Entscheidung um den Abriss fällt am Ende einer lediglich auf mehreren Ausschuss-Sitzungen des Stadtrates überstürzt, hitzig und unter Druck geführten Debatte.

Dabei ist die Qualität der Architektur völlig unzureichend dargestellt worden. Es geht um mehr als einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der damals so genannten Irrenanstalten - nämlich den Prototyp für die räumliche Zusammenlegung "heil-" und "unheilbarer" Patienten. Mindestens ebenso bedeutsam wie dieser medizingeschichtliche Aspekt ist dessen architektonische Umsetzung.

Irrenanstalten hatten von Anfang an etwas Idealtypisches an sich. Sie strebten nach durchreglementierter Organisation. Die hallesche Anlage nimmt in ihrer im Viereck angelegten Figur Anregungen aus der Architekturlehre Jean-Nicolas-Louis Durands auf, eines Schülers des französischen Revolutionsarchitekten Etienne-Louis Boullée. Sein Musterbuch universal adaptierbarer, dabei durch und durch klassizistischer Grund- und Aufrisse dürfte im Entwurf der Anlage ebenso Pate gestanden haben wie die damals weit verbreiteten Utopien der Idealstadt. Der Architekt der Landesheilanstalt, Gustav Spott, belebte die formale Strenge dieser Architektur mit Anleihen bei Palladio - die verbindenden Bogengänge zwischen den Einzelhäusern - und mit Anklängen an den damals beliebten "Schweizerhaus-Stil" - den überstehenden Dächern.

Unter solchen Aspekten wird die Anlage zu einem singulären Charakterdarsteller im städtebaulichen Gefüge. Heide-Süd und der Innovationspark sind unverwechselbar nur mit dieser Architektur. Wie wenig das begriffen ist, zeigt auch das bereits begonnene Verfahren zur Auswahl eines bautechnisch geeigneten Architekturbüros für den Neubau des TGZ, das auf den klassischen Wettbewerb zur optimalen Gestaltfindung verzichtet. Das hat auch der Gestaltungsbeirat der Stadt inzwischen kritisiert.

Es gibt alternative Standorte für das TGZ. Der Bauherr lehnt alle aus verschiedenen Gründen ab. Die Stadträte stimmen über den Abriss der Anstalt ab, ohne sich über die möglichen anderen Baugrundstücke eine eigene, unabhängig geprüfte Meinung gebildet zu haben.
 
Extra

Halle/MZ. Vermutlich das älteste Krankenhaus für Geistesgestörte ist seit dem 14. Jahrhundert das Spital Bedlam in London. Dieses Haus christlicher Nächstenliebe war zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem typischen Fall der Unmenschlichkeit verkommen. In ganz Europa gab es Reformbemühungen in der damals so genannten Irrenfürsorge. In Halle prangerte der Psychiater Heinrich Damerow die Zustände an. Die preußische Regierung bewilligte 1841 den Neubau der Provinzial-Irrenanstalt Nietleben. Sie blieb, nach mehreren Erweiterungen, bis 1935 in Betrieb.

 
   

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